Aus der Chronik des Ortsvereins Seligenstadt | ||
ZIELVORSTELLUNGEN, KONTINUIERLICHER AUFBAU
UND STÄNDIG WACHSENDES SELBSTBEWUSSTSEIN Die Gemeinderatswahlen wurden am 2. Juli 1910 durchgeführt. Es schieden
diesmal aus: Rettinger, Rosenstengel und Spahn, sowie der Beigeordnete
Fecher. Sie konnten natürlich auch wiedergewählt werden. Zu dieser Wahl
haben SPD und Fortschrittspartei mit Zustimmung des jeweiligen
Kreisvorstandes ein Bündnis geschlossen, um sich durch Aufstellung
gemeinsamer Kandidaten gegenseitig zu unterstützen und die Zentrumspartei zu
stürzen.
Man ging dieses Bündnis mit großem Optimismus ein, konnte das Zentrum trotz aller Bemühungen jedoch nicht gefährden. Nachdem von 859 Wahlberechtigten nur 733 zur Wahl gingen, ergab sich dann folgendes Bild: Die SPD und die Volkspartei erhielten 248, das Zentrum 327 Stimmen; 158 (!) Bürger wählten ungültig. Weiermann brachte es auf 308 Stimmen, die nachfolgende Skala zeigt das amtliche Ergebnis:
Immer wieder rief in der letzten Zeit die SPD auf: Werdet Ortsbürger! Nur dadurch konnte man seine Anhängerschaft erweitern, aber - das Bürgerrecht kostete eben relativ viel Geld und dies hatten die Arbeiter für ihren Lebensunterhalt bitter nötig. Im „Schützenhof" veranstaltete der hiesige Ortsverein am 11. Juli 1910 eine Protestversammlung mit einem Referat des Offenbacher Parteisekretärs Karl Rink. Er sprach Über den Entwurf der neuen Reichsversicherungs-Ordnung und zeigte an Beispielen die Beschneidung der Rechte der Kassen und deren Folgen für die Arbeiterschaft auf. Eine Protestresolution wurde zum Schluß abgefaßt und weitergeleitet. Die nächste Parteiversammlung wurde am 21. August im Vereinslokal abgehalten. Kassierer Brehm gab den Kassenbericht ab, der wiederum zu keinen Beanstandungen führte. Zum Parteitag, der vom 18. bis 24. September in Magdeburg stattfindet, wurden mit 21 Stimmen Diener aus Mühlheim und mit 20 Stimmen Sturmfels aus Groß-Umstadt gewählt. An diese Wahl knüpfte eine Diskussion über die bevorstehende Gewerbegerichts-Wahl an. Die Parole: die ehemals verlorenen Sitze wieder zurückzuerobern. Deshalb müssen schon jetzt alle Vorbereitungen getroffen werden. Die Anregung, demnächst eine Konferenz aller zum IV. Kammerbezirk zählenden Orte einzuberufen, wurde gutgeheißen und danach beschlossen, diese Angelegenheit dem Kartellvorstand zu übergeben. Vertreter sollen Gewerkschaftsorganisationen und Parteivereine sein. Die entsprechenden Einladungen dafür werden allen brieflich zugehen. Die einzelnen Vorstände wurden aufgefordert, für zahlreichen Besuch zu sorgen. Gemäß des § 6 des Kreisstatutes betr. Gewerbegericht für den Landbezirk
Offenbach vom 8. März 1902 hat in diesem Jahr eine Neuwahl der im Jahre 1904
gewählten Beisitzer zu erfolgen. Es scheiden diesmal aus der IV. Kammer aus: Arbeitgeber Johann Böres, Gerbereibesitzer aus Seligenstadt (t) Anton Sprey II, Zimmermeister aus Seligenstadt Arbeitnehmer Josef Höfling III aus Seligenstadt Philipp Schmidt aus Froschhausen
Am 31. August verkündet der Kreisvorsitzende Karl Rink, dass die beiden vorgeschlagenen Delegierten für den Magdeburger Parteitag, Diener (1151 Stimmen) und Sturmfels (639 Stimmen), vom Kreistag gewählt worden sind. Am 17. September werden die Arbeitnehmer-Kandidaten für die IV. Kammer des Bezirkes zum Gewerbegericht vorgestellt: Adam Malsi aus Seligenstadt Adam Josef Kern aus Jügesheim Die entsprechenden Flugblätter und Stimmzettel werden den einzelnen Ortsvereinen direkt aus Offenbach zugeschickt. Am 23. September 1910 stand dann der Wahlausgang fest. Auf die Liste der freien Gewerkschaften entfielen 494 und auf die der christlichen 340 Stimmen. Das Ergebnis hätte noch weit besser sein können, wenn nicht die Jügesheimer Genossen auf ihr Wahlrecht hätten verzichten müssen, da auf der Wahlrechtsbescheinigung die Unterschrift des Bürgermeisters fehlte! Die Christlichen waren rechtzeitig erschienen, so dass es ihnen möglich war, die fehlende Unterschrift noch einzuholen. Trotzdem verzeichneten die Arbeitnehmer in drei Jahren einen Gewinn von 85 Stimmen, während die Kontrahenten 76 Stimmen verloren. Sämtliche Sitze der IV. Kammer hatten bisher die freien Gewerkschaften seit Bestehen derselben bis 1904 inne. Vor 3 resp. 6 Jahren gelang es den christlichen Gewerkschaften jedoch, die Mehrheit zu erringen. Nun hatten die freien Gewerkschaften wieder gewonnen. Ein großartiger Erfolg. Am Sonntag, dem 13. November 1910, fand eine weitere Parteiversammlung im „Schützenhof" statt. Kassierer Brehm legte die Quartalsabrechnung vor, und Artur Pöche erstattete seinen Bericht von der Kreiskonferenz. Es schloß sich dann eine Diskussion an, die Kritik, besonders am Arbeiterradfahrer-Verein, übte. Ihm und anderen Sportvereinen wurde vorgeworfen, sich in letzter Zeit der Parteiarbeit entzogen zu haben. Das müsse sich wieder positiv ändern. Danach regte Georg Hüter an, auf zukünftigen Parteitreffen mehr als bisher die Tagespolitik zu berücksichtigen. Auch eine Vortragsreihe wurde angekündigt. Die Volkszählung vom B. Dezember 1910 ergab für Seligenstadt nachstehenden Stand:
Ferner wurde beschlossen, dass ab jetzt die Kolportage des „Offenbacher Abendblatt" und des „Wahren Jakob" Ernst Schaub übernimmt. Dann stellte man vier neue Parteimitglieder vor: Franz Ostermeier Franz Huth
Die schon im vergangenen Jahr angekündigte Parteiversammlung fand am 15. Januar 1911 statt. Dr. Katz aus Offenbach referierte über die kommende Reichstagswahl im nächsten Jahr. An der anschließenden Aussprache beteiligte sich auch der Genosse Winter aus Obertshausen, dessen Ausführungen den Jugend- und Frauenorganisationen galten, speziell ihr Verhalten bei den Wahlen. Seligenstadts Parteimitglied Georg Hüter und Rudolf Katz warben zum Schluß für den Beitritt interessierter Bürger zum Sozialdemokratischen Wahlverein. Am 22. Januar trafen sich die Parteimitglieder zu ihrer diesjährigen
Generalversammlung im „Schützenhof". Der Vorsitzende, Johann Adam Blei,
legte den Jahresbericht dar und streifte die wichtigsten Ereignisse, wie
Gemeinderats- und Gewerbegerichtswahl sowie die Gründung des
Arbeitergesangvereines „Bruderkette". Die Geschäfte des Vereines wurden im
vergangenen Jahr in 10 Mitglieder-, 4 Vorstands- und 2 kombinierten
Versammlungen erledigt. Die Mitgliederzahl stieg um 15 Mitglieder;
eingetreten waren 22, ausgetreten, verstorben oder verzogen 7 Mitglieder.
Außerdem hatte man 4 öffentliche Volksveranstaltungen abgehalten, die bis
auf eine sehr gut besucht waren. Zu zwei Kreiskonferenzen und einer
Landeskonferenz wurde je ein Delegierter entsandt. Das Parteiorgan
„Offenbacher Abendblatt" ist um 18, der „Wahre Jakob" um 23 Abonnenten
gestiegen. 199 Marken wurden 1910 mehr abgesetzt. Eine Anzahl
Naturalisationen wurde erledigt, jedoch ist die Zahl der „Nicht-Hessen" noch
ziemlich hoch; demnächst werden aber die Genossen Blei und Katz die
Naturalisation unentgeldlich erledigen, so dass auch die Summe der
wahlberechtigten Personen steigen wird.
Dem Beitragskassier werden für jede verkaufte Marke 1'/2 Pfennig gewährt. Als Delegierte in das Gewerkschaftskartell entsandte man Katz und Bauer. Nun folgten in kurzen Abständen die bereits angekündigten Verträge des
Kreissekretärs Karl Rink aus Offenbach: 2J. Januar: Wichtige Fingerzeige für Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre". 12. Februar: „Die Entstehung der menschlichen Sprache". 19. Februar: Thema nicht mehr auszumachen. 26. Februar: „Aufbau einer Rede und Sammlung von Materialien". Seit Sonntag, dem 19. März 1911, ist der Zentrumsstadtrat und
Maurermeister Peter Josef Nessel vermisst. Er verließ morgens um 8 Uhr seine
Familie unter dem Vorwand, zur Kirche zu gehen. Nessel begab sich aber in
Richtung Hainstadt und wurde seit dem nicht mehr gesehen. Zehn Tage später,
am 29. März, ist das Verschwinden von Nessel aufgeklärt: er ist so
verschuldet, dass ein Konkursverfahren gegen ihn eröffnet werden muß.
Zahlreiche Handwerker und Gewerbetreibende sind schwer geschädigt worden.
Nessel flüchtete schließlich in die Schweiz. Am 3. April verstarb nach einem schweren Unfall in der Zeche „Gustav" der
Arbeiter und Parteigenosse Leonhard Walter im Alter von 29 Jahren. Erst seit
einigen Wochen gehörte er der SPD an. Viele Genossen beteiligten sich an der
Beerdigung und erwiesen ihm die letzte Ehre. Die diesjährige Maifeier fand wieder im Saal des „Schützenhofes" statt.
Sie begann mit einem Umzug, an dem sich alle Arbeiterkorporationen
beteiligten. Die Festrede hielt Parteisekretär Max Hirsch aus Offenbach.
Danach folgte die Theateraufführung des Stückes „Solidarität". Zwischen den
einzelnen Darbietungen und Reden sangen die Vereine „Bruderkette" und
„Frohsinn" Arbeiterlieder und Freiheitschöre. Diese Maifeier war die bisher
größte Veranstaltung in der Geschichte des Sozialdemokratischen Vereines und
des Gewerkschaftskartells von Seligenstadt. Am 3. November 1911 fanden wieder Landtagswahlen statt. Kandidaten waren: Parteisekretär Karl Rink aus Offenbach (SPD) Die Wahlen brachten aber keine Veränderungen parteipolitischer Natur in unserem Gebiet. David Singer trat an die Steile seines Parteifreundes Horn, denn er siegte in seinem Wahlkreis mit folgendem Ergebnis:
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Auch in Seligenstadt
gewann Singer souverän. Während er 793 Stimmen auf sich vereinigen konnte,
brachte es Rink nur auf 219, Carnier sogar nur auf 40 Stimmen. Die letzten Reichstagswahlen vor dem Ersten Weltkrieg fanden am 12. Januar statt. Der Sozialdemokratische Wahlverein veranstaltete zu diesem Zweck am 17. Dezember 1911 eine letzte große Versammlung (Anzeige). |
Folgende Kandidaten standen zur Wahl: Carl Ulrich (SPD), Reichstagsabgeordneter aus Offenbach Das offizielle Ergebnis für den Wahlkreis Offenbach-Dieburg lautete:
Die zweite Zahlenreihe gibt das Ergebnis von Seligenstadt an. Diese Wahlen hatten, wie auch die hohe Wahlbeteiligung von 88,3% im Wahlkreis beweist, wieder lebhafte Anteilnahme der Bürger gefunden. Die SPD wurde an Stelle des Zentrums stärkste Fraktion im Deutschen Reichstag, da der sozialdemokratische Anteil im Reich auf Grund des Zerfalls des konservativ-liberalen „Blocks" enorm anstieg. Bei dieser Tendenz war der Wahlausgang auch hier keine Überraschung. Carl Ulrich siegte schon im ersten Wahlgang mit 54,9% der abgegebenen Stimmen. Überblickt man abschließend die Reichstagswahlen der Zeit des Deutschen Kaiserreiches, so kann man feststellen, dass das Interesse aller Bürger bei den einzelnen Wahlen stetig zunahm. Die Beteiligung der in der Vergangenheit nicht wählenden Gruppen kam vornehm- lich der SPD zugute, die mit 60,9% der Stimmen im Wahlkreis Offenbach-Dieburg von 1898 an und auch nach 1919 und 1949 keinen solchen Höhepunkt mehr erreichten. Am 27. Juli 1912 wurde der bisherige Seligenstädter Bürgermeister mit überwältigender Mehrheit für weitere neun Jahre in seinem Amt bestätigt. Das Jahr 1913 begann mit der obligatorischen Generalversammlung, die am Sonntag, dem 19. Januar, um 15 Uhr, im „Schützenhof" veranstaltet wurde. Es war diesmal eine Rückschau auf die Arbeit und die Entwicklung des Sozialdemokratischen Vereines in der Stadt. Man konnte sich sehr darüber freuen, dass die Mitgliederzahl gewachsen war; gab es 1911 nur 65 Mitglieder, so hatte sich die Zahl im Jahre 1912 auf 107 erhöht. Durch Tod und Wegzug schieden 6 aus, 8 wurden gestrichen. Der augenblickliche Stand betrug also 93 Parteimitglieder. Durch diese Erhöhung verbesserte sich folglich auch die finanzielle Lage des Vereines. Im vergangenen Jahr wurden 8 Parteiversammlungen, 7 Vorstandssitzungen, 2
öffentliche Volksversammlungen, 2 Vorträge von Karl Rink über den
Sozialismus und den Chemnitzer Parteitag sowie ein Referat des Genossen
Meyer aus Mühlheim über die Jugendorganisationen abgehalten.
Martin Murrmann legte anschließend den Kassenbericht vor: Die
Gesamteinnahmen einschließlich des Kassenbestandes von 1912 betrugen 402,75
Mark, an Ausgaben standen 284,23 Mark gegenüber, so dass sich der momentane
"Bestand auf 118,52 Mark beläuft. Der Markenumsatz stieg von 689 im Jahre
1910 auf 1 133 im folgenden und erhöhte sich 1912 nochmals auf 1 866 Stück.
Dem Bildungsausschuß wurden 10 Mark zur Erweiterung der Bibliothek
überwiesen. Das war der erfreuliche Kassenbericht von Martin Murrmann. Den Jahresbericht des Kartells erstattete dann Georg Hüter. Die Vorstandswahl zeigte keine wesentlichen Veränderungen. Neu gewählt wurden Georg Hüter als 2. Vorsitzender und Jakob Nover als Beisitzer, Kartelldelegierte die Genossen Maier und Huth. Auf einer Parteiversammlung am 9. Februar im „Schützenhof" sprach bei gutem Besuch Rudolf Katz über die Aufgaben der Partei im kommenden Zeitraum. Den Bericht über die Frauen- Und Jugendkonferenz erstattete Johann Adam Blei. In der sich anschließenden Diskussion über allgemeine Fragen regte Adam Ostermaier an, endlich eine Rechtsauskunftsstelle einzurichten, um diese Lücke in den hiesigen Arbeiterorganisationen zu schließen. Daraufhin wurde auf Antrag von Rudolf Katz eine 5-köpfige Kommission gebildet, die sich mit dieser Aufgabe befassen. Diese geplante Rechtsauskunftsstelle wurde dann schon am 19. Februar besetzt, nachdem die Partei einen Juristen gefunden hatte, der unentgeldlich Rechtsfragen beantwortete. Am 13. April traf sich die Parteiführung beim Genossen Karl Burkard, um über folgende Tagesordnung zu beraten: Bericht von der Kreiskonferenz in Urberach durch Georg Hüter Kommunalpolitik (anstehende Gemeinderatswahl) Hausagitation (neun Genossen wurden dazu eingeteilt) |
Rechtsanwalt Otto Sturmfels aus Groß-Umstadt eine Festrede hielt. Für die Unterhaltung der rund 200 Personen sorgten eine Tanzkapelle und der Gesangverein „Bruderkette".Auf einer Parteiversammlung am 15. Juni im „Schützenhof" wurde beschlossen, recht zahlreich zum 65jährigen Stiftungsfest der Seligenstädter Turngemeinde zu erscheinen. In einem Vortrag sprach dann Johann Adam Blei über die Hessische Landgemeindeordnung und die kommende Gemeinderatswahl. |