Aus der Chronik des Ortsvereins Seligenstadt
 
     
  DIE PERIODE RELATIVER POLITISCHER UND
ÖKONOMISCHER STABILITÄT
1924-1929

Kein Reichstag der Weimarer Republik hatte die im Artikel 23 der Verfassung vorgesehene Dauer der Legislaturperiode von vier Jahren erreicht. Der erste 1920 gewählte bestand am längsten und wurde nur wenige Wochen vor Ablauf der regulären Frist aufgelöst. Die Neuwahlen wurden für den 4. Mai 1924 anberaumt. Einen Tag zuvor veranstaltete die Seligenstädter VSPD noch eine öffentliche Wählerversammlung, wie aus der nachstehenden Anzeige im „Seligenstädter Anzeiger" vom 3. Mai ersichtlich ist.

 
  Das Ergebnis:
 
SPD 427 Stimmen
Deutsche VP 27 Stimmen
Kommunisten 282 Stimmen
Deutsche Demokraten 79 Stimmen
Haeußer-Bund 1 Stimme
Deutsch-nationale VP 48 Stimmen
Zentrum 997 Stimmen
Rest-USPD 15 Stimmen
Deutsche Wirtschaftspartei 65 Stimmen
Völkisch-sozialer Block 21 Stimmen
Bund der Geusen 6 Stimmen
Hess. Wirtschaftsbund 3 Stimmen
Hess. Bauernbund 90 Stimmen

Insgesamt wurden 2 091 Stimmen abgegeben, davon waren 2061 gültig und 30 ungültig.
Stimmberechtigt waren 3 111 Bürger der Stadt.

Am 26. Mai trat das Kabinett Marx zurück, wurde aber am 3. Juni wieder im Amt bestätigt.

Schon am 27. Oktober 1924 wurde der gerade gewählte „lnflations-Reichstag", der nach schweren Auseinandersetzungen den zur Lösung der Reparationsfrage aufgestellten Dawes-Plan angenommen hatte, wieder aufgelöst und Neuwahlen für den 7. Dezember ausgeschrieben.

Leider war es mir nicht möglich, die entsprechenden Wahlresultate zu eruieren, da mir hierfür keine Unterlagen zur Verfügung standen.

Am 15. Dezember 1924 trat die Reichsregierung unter Wilhelm Marx abermals zurück.

Der erste deutsche Reichspräsident Friedrich Ebert war im Februar 1919 von der Nationalversammlung gewählt und durch verfassungsdurchbrechenden Beschluß des Reichstages vom 24. Oktober 1922 bis zum 1. Juli 1925 im Amt bestätigt worden. Noch vor Ablauf dieser Zeit verstarb er aber am 28. Februar 1925 im Alter von erst 54 Jahren. Eine Neuwahl wurde notwendig, die am 26. April 1925 Paul von Hindenburg als Sieger hervorgehen lässt.

Der inzwischen mit der Regierung beauftragte parteilose Hans Luther tritt am 5. Dezember 1925 zurück, bildete aber am 19. Januar 1926 eine neue Reichsregierung. Seine Zeit ist diesmal sehr bemessen, denn am 17. Mai ist es erneut Marx, der zum Reichskanzler ernannt wird. (Außenminister wird Gustav Stresemann).

Zum ersten Mal kam es im neuen Deutschland zu einem Volksentscheid, der am 20. Juni 1926 durchgeführt wurde. Dabei handelte es sich um den Antrag einer entschädigungslosen Enteignung der vormals regierenden deutschen Fürstenhäuser. Der Gedanke, diese Frage durch das Volk entscheiden zu lassen, war von den Sozialdemokraten ausgegangen, dann von den Kommunisten aufgegriffen worden, die mit ihrer Forderung das Problem aber radikalisierten.

Da es sich um eine Verfassungsänderung handelte, mußte mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten mit „Ja" stimmen. Aus dem amtlichen Ergebnis ging dann allerdings hervor, dass nur 36,3% dafür waren.

Seligenstadts SPD und Gewerkschaft setzten sich ebenfalls für die Enteignung des Vermögens der Fürsten ein, wie der nachstehende Aufruf vom 6. März 1926 zeigt.

  Das Ergebnis in Seligenstadt lautete dann:

Gültige Ja-Stimmen: 1 729

Gültige Nein-Stimmen: 74

Von insgesamt 1 892 Stimmen waren 89 ungültig.

 

  Während das Volksbegehren noch nicht abgeschlossen war, lagen schon wieder neue Eintragungslisten für eine weitere Entscheidung vor: Die Auflösung des hessischen Landtages.

Vorher fanden zu diesem Thema, zu aktuellen Wirtschaftsproblemen und zur Unterstützung der Erwerbslosen auch einige Versammlungen der Seligenstädter Sozialdemokraten statt. Prominente Referenten äußerten sich zu diesen Fragen: F. Remy, H. Galm und H. Buckpesch. Am 5. Dezember fiel die Entscheidung: Der Volksentscheid wurde abgelehnt. Der Landtag, somit auch die Regierung, blieben im Amt. Die zu dem „Wirtschafts- und Ordnungsblock" zusammengeschlossenen Deutschnationalen, Deutsche Volkspartei und der Hessische Bauernbund wollten die Auflösung des Landtages herbeiführen, um eine Änderung in der Besetzung der Regierungsstellen zu erreichen. Die Kommunisten hatten sich ebenfalls für die Auflösung entschieden.

Das Ergebnis für Seligenstadt:

Gültige Ja-Stimmen 393

Gültige Nein-Stimmen 891

Die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen betrug 1220. Stimmberechtigt waren 3 216 Bürger. Zieht man die 33 ungültigen Stimmen ab, stellt man fest, dass die Wahlbeteiligung sehr schwach gewesen ist.

Am 19. März 1927 vereinigten sich die beiden Gesangvereine „Bruderkette" und „Frohsinn" zum „Volkschor Seligenstadt". Diesen Chor leitete jetzt der Lehrer Daab aus Offenbach. Das Motto dieses Volkschores war: „Großes Werk gedeiht durch Einigkeit".

Den Maifeiertag 1927 veranstalteten die hiesigen Kartelle von Gewerkschaft und Sport. Wie aus dem nachstehenden Inserat im „Seligenstädter Anzeiger" vom 30. April zu ersehen ist, war das Programm abwechslungsreich ausgewählt worden.

  Auch Landtagswahlen waren wieder an der Reihe. Sie waren für den 13. November 1927 ausgeschrieben. Die Seligenstädter SPD veranstaltete am Tag zuvor eine große öffentliche Versammlung.
 (Seligenstädter Anzeiger vom gleichen Tag).
  Zu dieser Wahl sei bemerkt, dass zum ersten Mal seit 50 Jahren in der Stadt Offenbach, bei gleicher und direkter Wahl, die SPD nicht mehr als Sieger hervorgegangen ist. Die KPD hatte sie um 900 Stimmen überflügelt. Die Wahlbeteiligung betrug nur etwas über 50%. Seligenstadt wählte wie folgt:
 
Sozialdemokraten 306 Stimmen
Zentrum 1 092 Stimmen
Demokraten 56 Stimmen
Hess. Landbund 18 Stimmen
Deutschnationale 15 Stimmen
Deutsche Volkspartei 16 Stimmen
Volksrechtpartei 17 Stimmen

Von 3 265 Wahlberechtigten gingen 1 737 Wähler zur Wahlurne. 33 Stimmen waren ungültig.

  Die nächsten Reichstagswahlen wurden am 20. Mai 1928 durchgeführt. Die Bekanntgabe des Wahlablaufes veröffentlichte der „Seligenstädter Anzeiger" am 15. Mai. Als interessantes Zeitdokument soll diese amtliche Bekanntmachung an dieser Stelle nachlesbar sein.

Einen Tag vor der Wahl veranstaltete die SPD im „Schützenhof" eine Wählerversammlung. Es sprach der Reichstagskandidat Dr. Quessel aus Darmstadt über die Bedeutung des zukünftigen Reichstages. Den Wahltag beschreibt der „Seligenstädter Anzeiger" wie folgt:

  „Nichts im Straßenbild deutete auf das Tempo eines großen Tages hin, an dem doch die Geschicke des Reiches für vier Jahre festgelegt wurden. Bei abwechselnd Regen und Sonnenschein der übliche Sonntagsverkehr. Die Wahlbeteiligung selbst war gut und hatten doch bis zur 12. Mittagsstunde durchschnittlich etwa 40 Prozent der Wähler abgestimmt. Im Ganzen schritten 75 Prozent der Wähler zur Wahlurne. Die meisten Stimmen vereinigte das Zentrum auf sich".

Das Ergebnis in Seligenstadt fiel dann wie folgt aus:

Parteien männlich weiblich gesamt
Sozialdemokraten

260

152

412

Deutschnationale VP

10

11

21

Zentrum

581

872

1 453

Deutsche Volkspartei

35

22

57

Kommunistische Partei

230

82

312

Deutsche Demokr. Partei

53

51

104

Linke Kommunisten

10

1

11

Wirtschaftspartei

50

20

70

NSDAP

5

5

10

Christl. Nationale Bauernpartei

13

6

19

Volksrecht-Partei

9

6

15

Evangelische Volksgemeinschaft

5

9

14

Alte Sozialdemokraten

3

3

6

Im Ganzen wurden 1 264 männliche und 1 240 weibliche Stimmen abgegeben. Die Gesamtzahl der gültigen Stimmen betrug 2 504, die der ungültigen 46. Eine Vielzahl von Parteien und politischen Gruppierungen hatte sich zur Wahl gestellt. Bis auf die SPD, die KPD und das Zentrum waren sie natürlich ohne Chance. Wie schon im zitierten „Seligenstädter Anzeiger" erwähnt, siegte das Zentrum souverän.

Wie aus der Anzeige hervorgeht, feierte der Ortsverein der SPD am 20. Oktober 1928 im „Schützenhof" eine Gedenkfeier an das vor 50 Jahren in Kraft getretene „Sozialistengesetz".

Verwunderlich stimmt, dass ausgerechnet der „Seligenstädter Anzeiger" einen kurzen, aber inhaltsreichen Artikel darüber veröffentlichte. Wegen der Seltenheit einer Publizierung sozialdemokratischer Ereignisse dieses Zentrumsblattes soll der Bericht in ungekürzter Form hier erscheinen.

  „Am 19. Oktober 1928 jährt sich zum 50. Mal der Tag, an welchem das Sozialistengesetz` vom Deutschen Reichstag mit 221 gegen 149 Stimmen angenommen wurde. Das 30 Paragraphen umfassende Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie` öffnete dem Ermessen der Behörden alle Türen. Zwölf Jahre wirkte dieses Ausnahmegesetz gegen die deutsche Arbeiterschaft. Die Sozialdemokratische Partei als auch die Zentralverbände der
  Gewerkschaften waren der Auflösung verfallen. Selbst Bildungs-, Gesang- und Vergnügungsvereine, in denen Arbeiter tätig waren, wurden aufgelöst. Das Erscheinen sämtlicher sozialdemokratischer Zeitungen, als auch Gewerkschaftsblätter, wurde verboten. Mehr als 1 000 Jahre Gefängnis, davon allein 600 Jahre für Majestätsbeleidigung wurden von den Gerichten über die Arbeiterschaft verhängt. Unter anderem wurde auch der ehemalige hessische Staatspräsident Carl Ulrich wegen Teilnahme an demKopenhagener Parteitag im Jahre 1883 auf 9 Monate in Staatspension geschickt. Viele Hunderte Familienväter wurden brutalerweise ausgewiesen und mußten innerhalb von 24 Stunden das Reichsgebiet verlassen, von denen viele die Auswanderung nach Amerika vorzogen. Bismarck war es darum zu tun, die geistig emporstrebende Arbeiterbewegung mit Stumpf und Stiel auszurotten. Doch er hatte sich selbst geopfert. Am 30. September 1890 lief das alte Gesetz sang- und klanglos aus. Bismarck war besiegt. Ein neuer Aufstieg für die deutsche Arbeiterbewegung begann, die heute als die stärkste der ganzen Welt bezeichnet werden kann. Mit gutem Recht gedenkt deshalb in diesen Tagen in ganz Deutschland die sozialdemokratische Partei jener Unterdrückungsmethoden. Auch die Ortsgruppe Seligenstadt veranstaltet am Samstag, den 20. Oktober, abends um 8 Uhr eine solche Gedenkfeier im großen Saal des "Schützenhof", zu der die Bevölkerung herzlichst eingeladen ist".
  Leider schrieb das Blatt keinen Bericht über den Verlauf der Feier, man kann aber davon ausgehen, dass sie ein großer Erfolg gewesen ist.

Wie aus der vorstehenden Anzeige ersichtlich wird, fand am 6. August eine große Bürgerversammlung im Gasthaus „Zum Riesen" statt. Den Verlauf schildert der „Seligenstädter Anzeiger" in seiner Ausgabe vom 8. August wie folgt:

 
  „Die Bürgerversammlung am Dienstagabend im ,Riesensaale`, welche von den sieben Gemeinderäten der Oppositionsparteien einberufen wurde, war eine der bestbesuchtesten, welche seit Jahren hier tagte. Der Saal war überfüllt. Die einzelnen Redner übten scharfe Kritik an der Geschäftsführung des Herrn Bürgermeisters mit den Zentrums-Gemeinderäten. Es wurde nachstehende Resolution gefaßt, welche von der Versammlung einstimmig angenommen wurde: „Die heute im ,Riesensaale` tagende Bürgerversammlung hat sich durch die Ausführungen der Herrn Gemeinderäte der Minderheit davon überzeugt, dass die von dem Bürgermeister unter Sekundierung der Gemeinderatsmitglieder seiner ihm ergebenen Mehrheit geübte Unterdrückung und Beiseiteschiebung der Minderheitsmitglieder sich nicht mit einer geordneten Geschäftsführung in der Gemeinde verträgt. Die Versammlung erachtet es als ungesetzlich, dass die Wiedereinberufung der am 12. Juni sabotierten Sitzung von dem Bürgermeister nicht getätigt worden ist und erwartet, dass der Kreisdirektor bzw. das Ministerium des Innern unverzüglich den Bürgermeister auffordert, die fragliche Sitzung vom 12. Juni unter Berufung auf Art. 104 III der L.G.O. einberuft. Die Versammlung spricht den Gemeinderäten der Opposition ihr Vertrauen aus und erwartet, dass diese auch weiterhin gegen die Machtgelüste des Bürgermeisters und seines Anhanges öffentlich Stellung nimmt."

Zur Erläuterung dieser Versammlung muß der Leser die Vorgeschichte wissen. Hier eine kurze Zusammenfassung: Auf Antrag der Sozialdemokratischen Fraktion und der Mittelständler fand am 12. Juni eine Gemeinderatssitzung statt. Tagesordnung: Beitreibung von Gemeinderückstandszahlungen. Der Bürgermeister eröffnet dann auch um 9 Uhr die Sitzung. Er liest eine kreisamtliche Verfügung vor, nach der in zwei Fällen die Eintreibung von beschlagnahmten Wohnungsmieten zu erfolgen habe. Daraufhin meldete sich Gemeinderat Christoph Geissler (Zentrum) zu Wort. Er gab namens der Zentrumsfraktion die Erklärung ab, es sei nicht Sache des Gemeinderates, in ein schwebendes Verfahren einzugreifen. Dies sei vielmehr eine rein verwaltungstechnische Frage. Seine Fraktion habe ihn des

halb beauftragt, aus den erwähnten Gründen nicht an der Sitzung teilzunehmen. Die gesamte Zentrumsfraktion und der Bürgermeister verließen dann den Saal. SPD und Mittelstand hatten natürlich gesetzlich keine Möglichkeit, gegen diese Machtprobe des Bürgermeisters und des Zentrums vorzugehen. Sie erklärten daraufhin öffentlich, dass sie den Gemeinderatssitzungen solange fernbleiben werden, bis die Zentrumsfraktion die geschäftsordnungsgemäße Erledigung des Antrages ermöglicht.