Aus der Chronik des Ortsvereins Seligenstadt
 
     
  DIE REVOLUTIONÄRE NACHKRIEGSKRISE
1919-1923

Die Wahlen zum ersten Reichstag der Weimarer Republik wurden am 6. Juni 1920 durchgeführt. Von 2 838 Wahlberechtigten in Seligenstadt machten 2006 von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Folgendes Ergebnis kam zustande:

Ulrich (MSPD) 531 Stimmen
Beckmann (BSPD) 292 Stimmen
Zetkin (KPD) 50 Stimmen
Becker (DVP) 57 Stimmen
Brentano (Zentrum) 895 Stimmen
Korell (DDP) 102 Stimmen
Dorsch (Hess. VP) 49 Stimmen

Am Wahlergebnis ist deutlich zu erkennen, dass die Mehrheitssozialisten ihre Führung gegenüber den Unabhängigen klar behaupteten, das Zentrum jedoch wie erwartet eindeutiger Wahlsieger in Seligenstadt war.

Am 21. April 1921 verstarb im Alter von nur 46 Jahren Adam Eiles, langjähriges Mitglied der SPD. Schon vor dem Krieg widmete er sich in seiner Freizeit den Belangen der Seligenstädter Arbeiterbewegung.

Trotzdem die diesjährige Maifeier auf einen Sonntag fiel, war sie nicht gut besucht worden. Der Vorstand der Partei übte schließlich auch offen Kritik, besonders an den Eisenbahnern und den in Offenbach tätigen Arbeitnehmern. Ein Lob wurde dem Gesangverein „Bruderkette" ausgesprochen, der sich komplett an den Feierlichkeiten beteiligte. Abends sprach Georg Kaul aus Offenbach vor rund 200 Teilnehmern. Anschließend spielte man den Einakter „Arbeiterfeiertag", in den Pausen sang der Arbeitergesangverein politische Lieder und Chöre.

Unter großer Anteilnahme fand am 7. Mai im „Schützenhof" eine Parteiversammlung statt. Tagesordnung: Das negative Verhalten des SPD-Gemeinderates Karl Veith gegenüber seiner Partei. Es hatte in der Vergangenheit schon mehrfach Differenzen mit ihm gegeben, als er Rechner im Aufsichtsrat des Konsumvereines war. Veith machte für diese Differenzen die SPD verantwortlich, was man seinem Egoismen und seinem Eigennutz zuschrieb. Hinter dem Rücken, so sagte man, agitiere er beim politischen Gegner; vielleicht verspricht er sich dort auch finanzielle Vorteile? Die Versammlung beschloß, Veith aus allen Ämtern zu entlassen. Die SPD sprach ihm das Recht ab, noch länger Mitglied zu sein.

Im Anschluß an dieses brisante Thema gab Jakob Burkard den Kassenbericht ab: die Einnahmen beliefen sich auf 428,97 Mark, die Ausgaben betrugen 374,10 Mark.

Am Ende der Versammlung übten die Anwesenden Kritik an der Art und Weise, wie die Gemeinde die Gasrechnungen eintreibt: Monatelang wird nicht kassiert, dann plötzlich alle Rechnungen zusammen.

Am 27. Mai fand im „Schützenhof" eine Volksversammlung statt. Der Landtagsabgeordnete Bornemann aus Darmstadt sprach zum Thema: „Die gegenwärtige Reichspolitik und der Eintritt der SPD in die Regierung." Zur hessischen Landespolitik äußerte er sich in dem Sinne, dass im gegenwärtigen Zeitraum nicht Radikalismus und Reaktion, sondern nur Vernunft helfen kann, Schwierigkeiten zu überwinden. Zum Schluß rief Georg Hüter zur Einigkeit und Solidarität auf, um die Organisation der Mehrheitssozialisten zu stärken.

Eine weitere Versammlung am 4. Juni befaßte sich mit zwei anstehenden Konferenzen: Die Bezirkskonferenz

in Bieber und die Landeskonferenz in Mühlheim. Zu beiden wurde je ein Delegierter entsandt: Eduard Blei nach Bieber und Anton Ott nach Mühlheim. Ferner regte man an, auf kommenden Veranstaltungen der Partei aktuelle politische Themen zu behandeln.

Am 10. Juni wurde erstmals nach längerer Unterbrechung wieder der derzeitige Mitgliederstand bekannt:

1920: 71 Mitglieder
1921: 68 Mitglieder

Auch die Zusammenkünfte der SPD wurden rückblickend bekannt gegeben. Es fanden statt:

Vorstandssitzungen: 3
Mitgliederversammlungen: 9
Öffentliche Versammlungen: 5

Nach einer von der SPD am 22. Juni einberufenen Einwohnerversammlung und einer Parteiversammlung am 5. Juli 1921 fand dann am 13. August eine große Veranstaltung der Seligenstädter Mehrheitssozialisten statt. Eingangs beredete man die Arbeits- und Wohnungsnot, anschließend berichtete Eduard Blei von der Kreiskonferenz in Bieber. Dann stellte sich in Seligenstadt erstmals der neue Parteisekretär Offenbachs, Fritz Remy, vor und bat für seine zukünftige Arbeit auch um die Unterstützung der hiesigen Genossen. Remy verlangte mehr sozialistisches Bewußtsein und die Integrierung der Frau in die Organisation.

Anton Ott gab seinen Bericht über den Bezirksparteitag in Mühlheim ab und nachdem der Kassierer wieder seinen Kassenbericht vorgelegt hatte beschloß man, einen Extrabeitrag von einer Mark zu erheben, der auch bewilligt wurde.

Schließlich kam man zu einem sehr wichtigen Punkt, über den lange und ausführlich debattiert wurde. Die hiesige USPD hatte ein Schreiben an den Ortsverein der Mehrheitssozialisten gerichtet, in dem sie zur Gründung einer gemeinsamen Arbeitsgemeinschaft aufruft. Dieser Vorschlag wurde aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt verworfen, einer Aussprache soll allerdings kein Hindernis im Wege stehen. Dafür bildete sich eine Kommission, der nachstehende Genossen angehörten:

Nikolaus Kühn, Georg Hüter, Eduard Blei, Jean Nierbauer, Anton Ott, Peter Schließmann, Gustav Seitz und Sieber.

Um ein Gegengewicht zum bestehenden Haus- und Grundbesitzerverein zu schaffen, schlug man zum Schluß der Versammlung die Gründung eines Mieterschutzvereines vor. Dieser Vorschlag soll in einer der nächsten Besprechungen in die Tat umgesetzt werden.

Auf einer weiteren Parteiversammlung am 10. September 1921 im „Schützenhof" behandelten die Anwesenden das Thema: „ Die Einheitsbestrebungen von MSPD und USPD. Vorerst wurde aber keine Einigung erzielt, noch saß der Schock der Trennung bei den Mehrheitssozialisten zu tief. Einstimmig lehnten die Mitglieder die „Wiedervereinigung" ab.

Zur Bezirkskonferenz nach Oberau reiste Georg Hüter; Anton Ott wurde zum Bezirksparteitag nach Frankfurt entsandt.

Abschließend diskutierte man die Frage der Elektrizität in der Gemeinde und Christian Korb regte eine stärkere Aktivität bei der Fürsorgeunterstützung an.

Nachdem sich die USPD am 5. Juli 1922 bereiterklärt hatte, unter bestimmten Bedingungen in die Regierung einzutreten, rückte die Vereinigung der „Schwesterparteien" immer näher. Vorher waren schon öfters diesbezügliche Gespräche geführt worden.

Am B. Juli fand im „Schützenhof" eine SPD-Versammlung statt. Der neue Vorsitzende Georg Hüter berichtete rückwirkend über das vergangene Jahr, die ausstehenden Wahlen und das neue Reichsmietergesetz. Am Rande sprach man natürlich auch wieder über den Zusammenschluß der beiden Parteien.

Die offiziellen Verhandlungen über die Vereinigung wurden schließlich am 29. August 1922 von den beiden Parteileitungen aufgenommen, um dann am 24. September 1922 auf dem gemeinsamen Parteitag in Nürnberg die „Vereinigte Sozialdemokratische Partei Deutschlands" zu gründen.

Nach der katastrophalen politischen und wirtschaftlichen Lage im Deutschen Reich, dem Rücktritt der Regierung Cuno, dem Hitler-Putsch im November und der Rentenmark-Ausgabe, bildete Wilhelm Marx am 30. November 1923 eine neue Reichsregierung. Diese Regierung war eine Koalition von Zentrum, Deutscher Volkspartei, Deutscher Demokratischer Partei und Bayerischer Volkspartei.

Eine Parteiversammlung der VSPD fand am 12. April 1924 bei Karl Burkard statt. Man besprach die verworrene Situation im Reich und die kommende Maifeier. Der Feiertag wurde diesmal wieder vom Gewerkschaftskartell ausgerichtet; er verlief dann auch ruhig und ohne Zwischenfälle.